Die Torah - Die fünf Bücher Mose
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Hebräischer Text (nach der Masorah)
וַיְכֻלּ֛וּ הַשָּׁמַ֥יִם וְהָאָ֖רֶץ וְכׇל־צְבָאָֽם׃
Deutsche Übersetzung (Samson Raphael Hirsch)
Es waren also der Himmel und die Erde und ihr ganzes Heer zum Ziele geführt.
Onkelos
וְאִשְׁתַּכְלָלוּ שְׁמַיָּא וְאַרְעָא וְכָל חֵילֵיהוֹן
Kommentar von R. Samson Raphael Hirsch
ויכלו. Die Wurzel כלה vereinigt zuerst zwei scheinbar ganz entgegengesetzte Bedeutungen. כלה heißt vernichtet werden, völlig aufhören zu sein. ואתם בני יעקב לא כליתם (Maleachi 3, 6): ihr Söhne Jakobs seid nicht zu Grunde gegangen, habt nicht aufgehört zu sein; und כלה heißt zugleich: die höchste Vollkommenheit des Daseins erreichen, כלה הבית לכל דבריו (Kön. I, 6, 38): das Haus war in allen seinen Beziehungen vollendet. Derselben Eigentümlichkeit begegnen wir in der Wurzel תמס. Es dürfte dieser Eigentümlichkeit eine doppelte bedeutsame Wahrheit zu Grunde liegen. Einmal, daß jedes vollkommene Sein das völlige Aufhören eines Anderseins voraussetzt. Es kann nur etwas und es kann nur jemand in etwas vollkommen werden, wenn die Person oder die Sache diesem Ziele sich ganz, d. h. ja mit Aufgebung alles andern hingibt. Wer in mehreren Dingen zugleich vollkommen sein will, wird jedes nur halb sein! Ferner: es gibt keine völlige Vernichtung, alles Aufhören zu sein ist nur relativ, ist nur der völlige Übergang in einen anderen Zustand und in eine andere Form. — Der Grundbegriff von כלה ist: zu einem Ziele hinstreben, daher תכלית: das Ziel, תכלה: das Streben nach einem Ziele. לכל תכלה ראיתי קץ, "für jedes Streben nach irgend einem Ziele gibt es eine Grenze" es gibt kein Ziel, an welches man alles andere daran setzen dürfte, רחבה מצותך מאוד "nur die Erfüllung göttlichen Gebotes ist ein alles umfassendes und alles forderndes Ziel." Daher auch כלה: schmachten nach einem Ziele, und כלי: alles, was einem bestimmten Ziele dient, Werkzeug, Gerät, Gewand usw. (כלה: das vollendete Lebensalter, in welchem wir das vollendete Hiersein mit dem noch vollendeteren Dortsein vertauschen.) כַּלֵה: zu einem Ziele führen, ויכֻלו sie wurden zum Ziele geführt. Wie das erste Wort der Schöpfungsgeschichte uns in den Anblick des Himmels und der Erde hinrief, und das große Wort uns vernehmen ließ: ganz uranfänglich hat Gott diese Himmel und diese Erde geschaffen, so führt uns nun dieses Schlusswort der Schöpfungsgeschichte wieder in den Anblick des Himmels und der Erde, und spricht das gleich große Wort: !ויכלו über Himmel und Erde aus, sie sind zu diesem Ziele gebracht worden! Sie waren nicht immer, sie wurden! Und ehe sie wurden, war ihr Dasein und ihr Jetztsein als Ziel im Gedanken ihres Urhebers vorhanden. Von Himmel und Erde, von dem ganzen Weltall war einst nichts als der Gedanke im Geiste ihres Urhebers vorhanden, und bei ihrem Werden war die Verwirklichung dieses Gedankens das Ziel eines sie schaffenden Urhebers. Nicht in Himmel und Erde liegt die Ursache des Himmels und der Erde, sie sind nicht selbst die Ursache ihres Entstehens — der widerspruchvollste, denkwidrigste, völlig undenkbare Gedanke! — die Ursache ihres Daseins liegt außer ihnen — und sie sind nicht das Produkt einer blindwirkenden Kraft, sondern das Werk eines denkenden, mit Ziel und Absicht allmächtig Schaffenden Einen!ויכלו Die Weisen lehren uns den Begriff noch schärfer fassen. Siehe, lehren sie, המעשים היו מותחין והולכין die ins Dasein gerufenen Stoffe und Kräfte waren in fortlaufender Entwicklung begriffen, ויכלו, da setzte Gott ihrer Entwicklung Ziel und Grenze, da war Er שדי, da war Er, שאמר לעולמו די, der seiner Welt: Genug! zurief, שאלמלא אמר לשמים וארץ די עד עכשיו היו מותחין והולכין, hätte Er dem Himmel und der Erde nicht sein Genug! zugerufen, sie wären noch heute in fortwährender Entwicklung begriffen. (Bereschit Rabe 10 u. 46) (כלה heißt auch wie כלא einhalten, zurückhalten, eingrenzen, לא יכלה ממך (Bereschit 23,1); ואת בניהם כלו בבית (Sam. I. 6, 10). Es sind dies alles Nuancen des Einen Begriffes: Ziel setzen.) Der Abschluss der Schöpfung, das Nicht-mehr-Fortentstehen neuer Bildungen, sprechen wir es mit einem Begriffe aus, der gegenwärtige Schabbat der Schöpfung, das ist eine noch lautere, sprechendere Offenbarung des Schöpfers, als das positive Dasein des Himmels und der Erde. Wenn, wie die materialistische Beschränktheit zu allen Zeiten gelehrt, das Entstehen der Welt aus physischen Ursachen hervorgegangen, dabei kein freier, denkender, allmächtiger Wille tätig war, wenn die Welt nur den in der Welt vorhandenen Naturkräften ihr Dasein verdankt, warum ist denn bereits seit Jahrtausenden Schabbat in der Schöpfung? Warum wirken denn diese Kräfte nicht noch, allmächtig Neues schaffend, fort? Warum ist bei vorhandener Ursache die Wirkung nicht mehr vorhanden? Was hat ihrem Schaffen dies Grenze setzende Ziel gebracht? Eben, daß seit Menschengedenken keine neuen Schöpfungen entstehen, eben der in der Schöpfung waltende Schabbat beweist, daß diesem Schabbat ein denkendes, Ziel wollendes, allmächtig freies Schaffen vorangegangen, und diese ganze Welt nicht das physische Produkt mit blinder Notwendigkeit zeugender Naturkräfte, sondern das moralische Werk eines, mit höchstem denkendem Bewusstsein, frei wollenden und frei wirkenden, allmächtigen Schöpfers ist. Ja, es führen uns die Weisen in den einzelnen Kreisen der Schöpfung umher und zeigen uns, wie nicht nur dem Weltganzen dieses allmächtige, Ziel setzende, den Schöpfer und Meister offenbarende !די aufgeprägt ist, sondern wie die Mannigfaltigkeit der bestimmt und scharf abgegrenzten Bildungen und Entwicklungen der einzelnen Arten innerhalb derselben Gattung dieselbe, Maß und Ziel setzende freie Schöpferhand offenbart. Siehe, sprechen sie daselbst, am Himmel: der eine Stern vollendet seinen Lauf in zwölf Monaten, der andere in zwölf Jahren, dieser in dreißig Tagen, jener in dreißig Jahren, andere erst in 480 Jahren — und auf Erden: wie verschieden und doch bestimmt die Reife der verschiedenen Pflanzen, diese Frucht reift in einem Jahre, jene braucht drei Jahre zu ihrer Reife — alles, im Himmel und auf Erden spricht es aus: כֻלִינו! Über uns hat ein freier Gedanke und ein freier allmächtiger Wille gewaltet, der uns Alle mit Ziel und Maß umgrenzt und eben in dieser Umgrenzung und durch diese Umgrenzung uns werden ließ und werden lässt, was wir sind! — !ויכֻלו, alles ist nach Maß und Ziel umgrenzt, allem ist Stoff und Kraft und Entwicklungs-Zeit und -Art zugemessen — ohne denkenden, wollenden, mit freier Allmacht Ziel und Maß setzenden Schöpfer, durch bloß physisch wirkende, blind gebundene Naturkräfte konnte keine Welt und konnte kein Strohhalm entstehen! — So ist נַיכֻלו der große jüdische Protest gegen jede materialistische, den freien Schöpfer leugnende Weltanschauung aller Zeiten, so ist נַיכֻלו das große jüdische עדות, das große jüdische Zeugnis für die Erschaffung der Welt durch einen freien, weisen, allmächtigen Gott. וכל צבאם. Die Tatsache, daß das jüdische Volk in seinem friedlichen, das Heiligtum umgebenden Lager nach יוצאי צבא gezählt wurde, daß die am Heiligtum dienenden Leviten als (Bamidbar 4, 23) כל הבא לצבא צבא לעבוד עבודה באהל מועד bezeichnet werden, daß endlich die mit ihren Spenden zusammen kommenden Frauen הצבאת אשר צבאו פתח אהל מועד genannt werden, diese Tatsache beseitigt die Annahme, daß in צבא der Begriff des Kampfes liege; vielmehr ist offenbar die Grundbedeutung: Heer. Nicht jede versammelte Masse ist ein Heer, vielmehr nur diejenige Masse, die sich dem Willen eines Einzigen unterstellt, der für die Zeit des Heeresdienstes über die geistigen und leiblichen Kräfte der ins Heer Eingetretenen zu gebieten hat, ist ein Heer. Die Intelligenz und der Wille des Heerführers macht somit das Heer zum Heer, und ein Heer ist eine große, von der Intelligenz und dem Willen eines Einzigen befehligte Menge. Die Heeresmenge ist gleichsam der Körper des Heerführers; ihre Kraft und Glieder gehorchen seiner Intelligenz und seinem Willen. So begreift sich die Verwandtschaft von צבא mit צבה, anschwellen, einen großen körperlichen Umfang gewinnen, und ähnlich צבה: wollen, sich zur Erreichung eines Gegenstandes ausdehnen, etwas in den Kreis seines Bereiches ziehen, oder sein Reich zum Einschluss eines Gegenstandes ausdehnen. (Vergl. התאוה und והתאויתם לכם). Daher auch צבי das Ersehnte, das Reizende. (Ob צבי, der Hirsch, seinen Namen von der im Munde der Weisen so gerühmten großen Elastizität (Dehnbarkeit) seiner Haut hat, auf welcher auch vielleicht seine Schnellkraft mit beruht, wagen wir nur zu vermuten.) צַוֵה heißt: jemanden in seinen Kreis, in das Bereich seines Willens stellen, ihn auf seinem Posten anweisen, verpflichten, befehligen. צפה: vom Mittelpunkt aus seinen Kreis überschauen, überwachen. צַפֵה: nach der Erscheinung eines Gegenstandes in seinem Kreis, nach etwas ausblicken, erwarten. Auch: einer Sache eine Umgebung bilden, sie mit etwas belegen. Alles im Himmel und auf Erden Erschaffene bildet ein großes באצ, ein großes Heer, dessen Mittelpunkt ihr Schöpfer und Meister, ihr Herr und Führer ist. Jegliches ist von Ihm an seinen Posten gestellt. Jegliches hat seines Teils, an seiner Stelle, mit den ihm zugewiesenen Kräften das ihm zugewiesene Pensum zu lösen. Der Plan des Ganzen ruht im Geiste des Führers, Jedes hat seine Aufgabe voll gelöst, so es das ihm überwiesene Bruchstück vom Ganzen treu erfüllt. Groß und Klein, Keines steht, wo es steht, aus eigener Machtvollkommenheit, und Keines, wo es steht, für sich allein. Zu Gottes Einem großen Heere gehören wir Alle. Sein ist die Macht und die Größe und die Einsicht und der Wille und das Gebot, unser der Gehorsam und die Pünktlichkeit und die Treue, der Eifer und die Arbeit; da hat Keiner sich zu überheben; Bruchstück das Größte das Einer leistet; aber auch das Kleinste unverloren, so er nur treu das löst, was der Eine große Heerführer von ihm erwartet. Seinem Blick entgeht das Kleinste nicht, und für Seinen Plan ist nichts entbehrlich und geringe — הלא צבא לאנוש על ארץ, "in Heeresdienst ist jeder hienieden" כל ימי צבאי איחל עד בוא חליפתי müssen "ausharren bis zur Ablösung, wo Gott uns abruft und uns auf einen anderen Posten führt". — (Job. 7,1. 14,14.)
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